Die Wurzeln des Yoga sind im alten Indien zu finden, frühe Spuren lassen sich auf 3000 Jahre v. Chr. datieren. Bereits in den Veden (veda, Sanskrit: "Wissen") wurden die ersten Lehren zunächst mündlich überliefert, später dann auch schriftlich dokumentiert. Über die letzten fünftausend Jahre war und ist Yoga ein wesentlicher Bestandteil der indischen Kultur und wird heute weiterhin lebendig praktiziert und tradiert.
Der Sanskrit-Begriff "Yoga" bedeutet in wörtlicher Übersetzung "Joch" - jenes, mit dem man Ochsen vor einen Karren spannt. Symbolisch betrachtet kann "Yoga" zum einen mit "Integration" oder "Vereinigung" übersetzt werden, zum anderen kann man "Yoga" aber auch im Sinne von "Regulieren" und "Verbinden" der menschlichen Kräfte verstehen. Yoga ist also ein Weg, bei dem Körper und Lebensenergie durch Übungen miteinander verbunden und die natürlichen Kräfte so reguliert werden, dass Harmonie entsteht. Auf diese Weise verstanden ist Yoga ein kontinuierlicher Lern- und Entwicklungsprozess, der alle Aspekte des Lebens mit einbezieht. Oft werden heutzutage mit "Yoga" nur körperliche Übungen assoziiert, die sogenannten Asanas. Aus der Yoga-Tradition wird jedoch ersichtlich, dass die Asanas ein Mittel zum Zweck der Meditation sind: Durch alle Übungen sollen Körper und Geist so in Harmonie gebracht werden, dass längere Phasen der ungestörten Meditation möglich werden. Yoga ist also zugleich eine Wissenschaft der Gesundheit und Heilung, als auch ein Pfad auf dem persönliche Entwicklung und spirituelle Erfahrung gefördert werden.
Die älteste überlieferte, systematische Niederschrift der Yogalehren bilden die Yoga-Sutras von Patanjali. Es handelt sich hierbei um 195 kurze Aphorismen, in denen die Essenz des Yoga konzentriert ist. Wann Patanjali genau lebte, ist nicht bekannt, verschiedene Forschungen gehen von einer Entstehungszeit der Yoga-Sutren zwischen 500 v. Chr. und 200 v. Chr. aus. Wichtiger als das Alter ist jedoch der Inhalt der Yoga-Sutren, sie zählen bis heute zu den wichtigsten Yogaschriften und sind noch immer ein hilfreicher "Leitfaden" für die Praxis des Yoga.
Pranayama bildet in den Yoga-Sutren von Patanjali das vierte Glied des Raja Yoga (bzw. Ashtanga Yoga - aus dem Sankrit "Ashta Anga", d.h. acht Glieder). "Prana" ist eine Bezeichnung für die Lebensenergie und "Ayama" kann mit "kontrollieren" oder auch mit "erweitern" übersetzt werden. Der Begriff "Pranayama" bezeichnet also die bewusste Regulierung und Vertiefung der Atmung durch Achtsamkeit und beständiges Üben. Da die Atmung Träger der Lebensenergie ist, kann Prana auch mit "Atem" übersetzt werden, im ursprünglichen Gebrauch hat der Begriff jedoch ein größeres Bedeutungsspektrum. Bei einer fortdauernden Konzentration auf die Vorgänge der Atmung und durch gezielt ausgeführte Atemtechniken werden auch Prozesse des Bewusstseins beeinflusst.
Bei der Pranayama-Praxis werden über längere Übungsphasen die normalerweise unbewussten Atemmuster durch bewusst angewandte Techniken ersetzt. Es gibt verschiedene Techniken, bei denen jeweils mit verschiedenen Muskelgruppen gearbeitet wird, vor allem mit dem Zwerchfell, sowie mit Brust-, Bauch- und Beckenbodenmuskeln. Auf diese Weise werden die Atembewegungen in den Fokus der Aufmerksamkeit genommen. Als erste Stufe der Praxis kann durch einfaches Atemgewahrsein zunächst die Sensibilität für die inneren Vorgänge der Atmung erhöht werden (Sanskrit: "prakrit pranayama"). Unbewusste, gewohnheitsmäßige Atmungsmuster können so bewusst werden. Im menschlichen Organismus besteht eine enge Beziehung zwischen kognitiven und physiologischen Prozessen. Es sind direkte Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Veränderungen und Veränderungen der Atemmuster zu beobachten. So geht beispielsweise Angst mit einer flacheren und schnelleren Atmung, oder Erschrecken mit plötzlichem unwillkürlichem Einatmen und Luftanhalten einher. Zumeist sind also mit bestimmten unbewussten Atemmustern ebenso unbewusste emotionale Muster der Psyche verknüpft - diese können durch ein verbessertes Bewusstsein für die Atmung ihren zwanghaften Charakter verlieren. Auf diese Weise können eingefahrene Gewohnheitsmuster des Organismus' sanft der bewussten Veränderung zugänglich gemacht werden.
Die Atmungspraxis kann somit als Bindeglied zwischen Vorgängen des Körpers und geistigen Prozessen betrachtet werden. Im Yoga hat deshalb die Praxis des Pranayama traditionellerweise eine große Bedeutung. Pranayama kann als eine der ältesten Formen der Atemtherapie bezeichnet werden.
In einer zweiten Stufe der Pranayama-Praxis werden durch achtsame, der natürlichen Atemregulation nicht zuwiderlaufende Techniken Entspannungseffekte und eine Verlangsamung der Atemaktivität bewusst herbeigeführt (Sanskrit: "vaikrit pranayama"). Damit einhergehend kommt es zu einer Beruhigung der gewohnheitsmäßigen Denktätigkeit des Geistes, so dass eine tiefe innere Stille eintreten kann und eine Weitung des Bewusstseins erlebbar wird.
Diese dritte Stufe des Pranayama, der stille, wache und offene Geist und die ruhige, ungestört und sanft fließende Atmung wird traditionell mit dem Begriff "kevala pranayama" bezeichnet.
Werden die verschiedenen Übungen regelmäßig praktiziert, wird das Atemvolumen vergrößert und der Atem immer länger und feiner (Sanskrit: "dirgha" und "sukshma" (Yoga Sutras, Kap. II, Sutra 50)). Bisweilen kommt es zu natürlichen (d.h. mühelosen) Atemverhaltungen (Sanskrit: "kevala kumbhaka"). Aus physikalischer Sicht kommt es bei so einer feinen, sehr langsamen Atmung zu einer nahezu turbulenzfreien, laminaren Luftströmung in den Atemwegen und Bronchien, wodurch die biochemischen Gasaustauschprozesse der Lunge optimiert werden. In verschiedenen medizinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die regelmäßige, langsame Pranayama-Atmung zu positiv bewerteten Effekten führt, wie z.B. ein verringerter Sauerstoffbedarf, verringerter Pulsschlag und Blutdruck, sowie Auswirkungen auf den Hautleitwert, gesteigerte Amplituden von Theta-Wellen im EEG, gesteigerte Aktivität des Parasympathikus, einhergehend mit dem Gefühl von Klarheit, Wachheit und Energetisierung.
Bereits Patanjali legte in seinen Yoga Sutras dar, dass Ablenkungen des Geistes mit unruhiger Atmung verbunden sind (Kap. I, Sutra 31) und dass der Geist durch behutsame Atemlenkung zur Konzentration gebracht werden kann (Kap. I, Sutra 34). Die Pranayama-Praxis führt bei sensibler Ausführung zu einer Veränderung der Aktivitäten des Geistes und kann bei regelmäßiger Praxis eine tiefgehende und nachhaltige Transformation des Bewusstseins und eine zunehmende Sensibilisierung für die subtilen Aspekte der Lebensaktivitäten bewirken.
Felix Tietje, 2007. Anmerkung: Teile dieses Textes bildeten auch die Grundlage für den Enzyklopädie-Artikel zu "Pranayama" in der deutschen Wikipedia. Der Text wird hier als gemeinfrei zur freien, nichtkommerziellen Nutzung veröffentlicht.
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